Leseprobe 2
Aus Kapitel 12
Die letzten sechzig Kilometer von Kirkenes bis Grense Jacobselv fuhr ich beinahe wie im Rausch. Zunächst ging es vorbei an der Grenzstation nach Russland. Die Europastraße einhundertfünf führte dort weiter nach Murmansk, dem legendären eisfreien Hafen an der Barentssee. Ich folgte einer schmaleren Straße bis zu dem entlegenen Außenposten im äußersten Nordosten des Königreichs der Norweger.
Tausendsechshundert Kilometer seit Mariefred hatte ich in drei Tagen geschafft. Durch Schweden und Finnland auf dem kürzesten Weg. Ein Schnitt von fünfhundert pro Tag – wer die Verhältnisse in Skandinavien kennt, weiß, dass das eine durchaus sportliche Leistung ist. Touristische Stopps legte ich nicht mehr ein. Fahren, schlafen, tanken und hin und wieder eine Stunde Pause zur allgemeinen Erholung. Dennoch fühlte ich jetzt, das Ziel dicht vor Augen, keine Erschöpfung.
Zuletzt nur noch als Schotterpiste tangierte mein Weg mehrfach den Grenzfluss Jacobselv. Hier war Norwegen zu Ende und das russische Reich mit seiner unendlichen Ausdehnung begann, ein Land, das bis zum Pazifik in Wladiwostok reichte. Grenzpfähle zwischen Straße und Fluss bildeten meine ständige Begleitung.
An einer Stelle, an der die Piste unmittelbar am Wasser entlangführte, stieg ich aus, um die Situation tiefer zu erspüren. Dort drüben, auf der anderen Seite des Jacobselvs, vielleicht vierzig, fünfzig Meter entfernt, begann Russland, ein Land mit dem gerade wir Deutschen eine lange und meistens äußerst tränenreiche, gemeinsame Geschichte hatten. Und auch umgekehrt! Kein anderes Land hat den Menschen in dem Riesenreich jenseits des Flusses mehr Leid zugefügt als Deutschland. Abgesehen von dessen eigenen Herrschern. Im Reich der Despoten belegen Hitler und Stalin bis heute einen gemeinsamen Spitzenplatz.
Genau in diesem Moment traf es mich, das Gefühl einer undefinierbaren Verantwortung für etwas, das ich selbst gar nicht verschuldet hatte. Ein dumpfes Unwohlsein im Blick auf meine Herkunft aus dem Land der Täter. Eine diffuse Beschwerde, die ich immer wieder verdrängt hatte, die aber endlich nach Befreiung verlangte.